Teil A Rechtsprüfung

1Vorbemerkungen

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Angesichts der schwachen Stellung des Reichsjustizministeriums in der Weimarer Republik und als Reaktion auf das nationalsozialistische Unrechtsregime wurde gefordert, dass eine zentrale und unabhängige Stelle die Entwürfe von Gesetzen und Verordnungen in rechtlicher Hinsicht überprüfen solle. Zunächst erhielt das Rechtsamt der Verwaltung des Vereinigten Wirtschaftsgebietes diese Zuständigkeit, danach das Bundesministerium der Justiz. Im Kabinettbeschluss vom 21. Oktober 1949 wurde festgelegt:

„Das Kabinett beschließt die Beteiligung des Justizministeriums bei den Vorarbeiten von Gesetzentwürfen zur Prüfung der Rechtsförmlichkeit und Einheitlichkeit der Gesetzessprache. Das gleiche gilt für von der Bundesregierung oder den Bundesministerien zu erlassende Rechtsverordnungen.“

Im ersten Tätigkeitsbericht der Bundesregierung „Deutschland im Wiederaufbau“ wird diese Aufgabe im Jahr 1950 wie folgt beschrieben:

„Erfahrungsgemäß neigen die Fachministerien dazu, die durch ein Gesetz zu regelnden Sachverhalte unter dem Gesichtspunkt der Bedürfnisse ihrer Verwaltung zu sehen. Bei allem Streben der Verwaltungsministerien nach Recht und Verfassungstreue kann in einem wirklichen demokratischen Rechtsstaat auf eine Stelle nicht verzichtet werden, die alle Gesetzentwürfe … überprüft. Das Justizministerium, frei von Bindungen an Verwaltungsinteressen, allein auf die Wahrung des Rechts bedacht, ist zur Erfüllung dieser Aufgaben in besonderem Maße berufen.“

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Die Bedeutung der Rechtsprüfung durch das Bundesministerium der Justiz erkennt man bereits daran, dass die meisten Gesetze auf Initiativen der Bundesregierung zurückgehen. In der – im Jahr 2005 vorzeitig zu Ende gegangenen – 15. Wahlperiode beruhten 274 der 385 verkündeten Gesetze auf Regierungsentwürfen. Zählt man die 70 Gesetze hinzu, die auf Entwürfen der Koalitionsfraktionen beruhten und sich auf Vorarbeiten der Regierung stützten, so wird deutlich, dass sich der unmittelbare Einfluss der Bundesregierung auf etwa 89 % der verkündeten Gesetze erstreckte.

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Umfang und Inhalt des geltenden Bundesrechts und seine Veränderungen sind immer wieder Gegenstand kritischer Äußerungen. Je nach persönlicher Sicht und Intention wird mehr oder weniger differenziert und sachkundig kritisiert: Es gebe zu viele Vorschriften. Die Vorschriften würden zu schnell und zu häufig geändert. Die Normenflut stranguliere die Wirtschaft. Sie enge die Entfaltungsmöglichkeiten der Bürgerinnen und Bürger ein. Die Rechtsetzung habe zu häufig Alibifunktion. Sie sei zu detailliert. Es werde nicht genügend auf die Durchführbarkeit der Vorschriften in der Praxis geachtet. Der Gesetzgeber reagiere zu langsam. Die Wirksamkeit der Vorschriften werde nach Abschluss des Gesetzgebungsverfahrens nicht mehr beobachtet u. v. m.

Auf diese kritischen Äußerungen kann und soll hier nicht im Einzelnen eingegangen werden. Eine grundsätzliche Betrachtung zur Funktion des Rechts und zum gegenwärtigen Rechtsetzungsverfahren würde den Rahmen und die Aufgabenstellung dieses Handbuchs sprengen. Gleichwohl wird diese Kritik hier erwähnt, denn die Funktion des Bundesministeriums der Justiz als zentrale Rechtsprüfungsinstanz und seine Empfehlungen sind nicht isoliert zu sehen. Auch wenn das Handbuch ganz auf die praktische Anwendung ausgerichtet ist, so gibt es doch an verschiedenen Stellen Bezüge zu Grundfragen des Rechts einschließlich des Rechtsetzungsverfahrens, die auch bei den erwähnten kritischen Äußerungen eine Rolle spielen.

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Die Problematik, die meistens unter dem Schlagwort „Normenflut“ zusammengefasst wird, ist vor folgendem statistischen Hintergrund zu betrachten: Seit Jahrzehnten bewegt sich der Umfang des geltenden Bundesrechts mit gelegentlichen Schwankungen in einer Größenordnung von etwa 2 000 Stammgesetzen und 3 000 Stammverordnungen. Die Rechtsakte sind unterschiedlich umfangreich. Das Bürgerliche Gesetzbuch z. B. umfasst 2 385 Paragraphen; viele Gesetze und Verordnungen enthalten dagegen weniger als 5 Paragraphen. Alle Stammgesetze zusammen bestehen aus etwa 47 000 einzelnen Vorschriften, alle Verordnungen zusammen aus etwa 40 000 einzelnen Vorschriften. Rechtsetzung bezieht sich heute überwiegend auf die Änderung bereits bestehender Rechtsregeln. Das Einkommensteuergesetz z. B. ist in den drei Jahren der 15. Wahlperiode insgesamt 24mal geändert worden. Bei diesem Normenbestand und dem Ausmaß der Rechtsetzung gehört es zur Verantwortung des Gesetzgebers, einerseits verlässliches, übersichtliches und verständliches Recht zu schaffen und andererseits das geltende Recht fortlaufend darauf zu überprüfen, ob es noch erforderlich ist. Hierzu leistet die Rechtsprüfung einen wesentlichen Beitrag.